TW: Trauer, Tod, Demenz
"Einmal bist du alleine mit deinem kleinen bunten Rucksack, den wir dir zum Geburtstag geschenkt haben, zur Bushaltestelle gegangen. Zum Glück stand Opa da, der zum Arzt fahren wollte. Du meintest zu ihm: Opa, ich bin jetzt schon so groß, ich mache nicht mehr in die Hose. Ich gehe jetzt in die Schule."
Bis vor einem Jahr war sie noch ein wesentlicher Teil meines Lebens.
Meine Oma erzählte oft Geschichten aus meiner Kindheit. Meistens nervten mich ihre Erzählungen. Sie waren mir unangenehm. Jetzt, seitdem sie nicht mehr da ist, vermisse ich ihre Schilderungen, ihre Nostalgie und Wertschätzung. „Du bist mein Stern.“, sagte sie. Bis vor einem Jahr war sie noch ein wesentlicher Teil meines Lebens.
Älterwerden ist nichts für Feiglinge
„Auch du wirst älter.“, meinte sie an meinem 21. Geburtstag. Ich weiß nicht genau, seit wann Geburtstage für mich keine Events mehr sind, auf die ich sehnsüchtig warte. Jetzt mit Ende 20 mache ich mir, ehrlich gesagt, Sorgen älter zu werden. Am liebsten würde ich das Gegenteil behaupten. Ich beobachte, wie Menschen, die mir nahe stehen, krank werden. Menschen, die für mich als Kind unbezwingbar schienen. Bevor meine Oma krank wurde, begegnete sie dem Leben positiv. Kurz vor ihrem Tod meinte sie zu mir, dass sie jetzt das Sprichwort Älterwerden ist nichts für Feiglinge verstehe.
Durch die Demenz fiel es meiner Oma schwer Traum und Realität auseinanderzuhalten.
Als wir merkten, dass etwas nicht mit ihr stimmte, war sie im Krankenhaus. Sie hatte gerade eine Operation hinter sich. Sie erzählte uns, dass ihre Nachbarin sie besucht habe und total durchgedreht sei. „Sie ist nackt über den Flur gerannt.“, meinte sie entgeistert. Durch die Demenz fiel es meiner Oma schwer Traum und Realität auseinanderzuhalten. Auch sie bemerkte, dass sich ihre Wahrnehmung veränderte, dass sie sich selbst nicht mehr vertrauen konnte. Sie wurde ängstlicher und weinte viel. Ich hätte ihr so gerne ihre Angst genommen.
Das letzte Mal als ich sie sah, erkannte sie mich erst nicht. Sie reichte mir die Hand und begrüßte mich als seien wir uns fremd. Kurz darauf kam sie ins Krankenhaus. Von ihrem Tod haben wir erst drei Tage später erfahren. Eigentlich sollte sie nach dem Wochenende entlassen werden.
Nicht jede Trauer ist sozial anerkannt
Ich dachte, dass meine Trauer nach einem Jahr vorüber ist. Ich spürte auch irgendwie Druck, dass sie dann auch gehen muss – so wie: „ist doch jetzt übertrieben so lange zu trauern, jede Person verliert ihre Großeltern irgendwann, ältere Menschen sterben halt“. Doch vor kurzem las ich in einem Beitrag, dass nicht jede Trauer gesellschaftlich anerkannt ist und ernst genommen wird; wie die Trauer um sehr alte Menschen. Er ermutigte mich, diesen Text zu schreiben. Trauer sollte jedem* unbefristet zugestanden werden, unabhängig davon um wen er*sie trauert.
Trauer sollte jedem unbefristet zustehen.
Wahrscheinlich werde ich immer Trauer empfinden, wenn ich an meine Oma denke, und das ist okay. Diese Trauer fühlt sich auch nicht nur schlecht an. Manchmal spüre ich sogar Glück in mir. Sie war unsere Nachbarin, die sich so sehr ein Kind wünschte. Und dann war ich da und wir hatten eine wundervolle Zeit zusammen.
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Trauern ist eben auch nichts für Feiglinge, liebe Caro.
Danke für diesen ehrlichen und wertvollen Text!
Ein Jahr ist auch keine so lange Zeit. Ich empfand das erste Jahr sehr anstrengend. Kraftzehrend.
Schmerz braucht vermutlich sehr viele Kalorien und bildet neue Muskeln. Ja, wie absurd, darüber zu urteilen, wer Trauer verdient und wenn ja wieviel. Absurd. Diese Werte der Norm. Wie wenig ich ihnen abgewinnen kann. Süße Oma hast Du. Was für ein Glück, wenn uns Geschichten und Erlebenisse miteinander verbinden, auch über den Tod hinaus. Wenn ein Mensch eine Fülle hinterlässt oder zumindest Liebe im Herzen eines anderen, das tröstet mich sehr.
Danke für diesen Beitrag, bei dem ich an meinen Vater denken musste, der dieses Jahr vier Jahre nicht mehr bei uns ist. Und ich trauere noch jeden Tag, wenn auch still und ganz für mich allein. Darum verstehe ich, was du hier schreibst, so gut.