Was braucht eine wohltuende und gerechte Gesellschaft?
Ein inspirierendes Interview mit Tuğba Avci
In ihrem Newsletter teilt
ihre Einsichten als Künstlerin und widmet sich den Alltagsmomenten, die wir meistens übersehen, die jedoch unser Leben ausschmücken und uns Kraft geben können wie der Wind, der die Äste der Bäume streift, oder ein Schattenspiel an einer Mauer.Im Interview erzählt Tuğba, warum sie sich mehr Empathie von ihren Mitmenschen wünscht und wie wir mit dem rasanten Tempo unserer Gesellschaft umgehen können. Ich habe viel aus dem Gespräch mitgenommen und hoffe, dass es euch ähnlich gehen wird.
Neben ihrer Arbeit bei dem großen Technologieunternehmen Salesforce geht Tuğba vielfältigen Tätigkeiten nach, die ihr wichtig sind und Freude bereiten: Sie ist politisch aktiv, arbeitet als Intersectionality Officer und ist erst kürzlich dem Betriebsrat beigetreten, um sich für gerechtere Strukturen im Unternehmen einzusetzen. In ihrer Freizeit ist Tuğba künstlerisch aktiv. Sie hat sich mit anderen Künstler*innen in Berlin vernetzt, stellt Keramiken her, malt und schreibt regelmäßig ihren Newsletter „as slow as possible“ auf Substack.
Du bist Künstlerin, hast deinen eigenen Newsletter und sprichst einige Sprachen, unter anderem Englisch, Deutsch, Türkisch und Griechisch. Wie drückst du dich am liebsten aus? Ich liebe schreiben. Ich könnte keine Kunst schaffen, ohne zu schreiben. Ich war schon immer jemand, der die Welt durch das Schreiben verstehen wollte. Und ich hatte schon immer das Bedürfnis, diese „Aha-Momente“ mit anderen Menschen zu teilen und mich mit ihnen auszutauschen. Dieses Bedürfnis ist eng mit meiner künstlerischen Arbeit verknüpft. Denn wenn ich Kunst mache, habe ich viele Erkenntnisse und Reflexionen. Deshalb habe ich die Rubrik „artist notes to self“ auf Substack erstellt, in der ich meine Erfahrungen teile.
Du bist kein großer Fan von Instagram. Warum? Es ist nicht so, dass ich die Plattform hasse. Aber als Künstlerin finde ich, dass Instagram Kreativschaffende ausnutzt. Wir stellen unsere Kunst kostenlos zur Verfügung. Dabei müssen wir in Kauf nehmen, dass unsere Kunstwerke gestohlen werden. Es gibt viele Accounts, die Werke von Künstler*innen sammeln, ohne sie zu kennzeichnen.
Aber was mich wirklich dazu gebracht hat, nicht mehr so viel auf Instagram hochzuladen, ist die Geschwindigkeit. Man muss jeden Tag posten, das Format ändern und Reels erstellen, nur um dem Algorithmus zu gefallen. Wenn ich es nicht tue, werde ich dafür bestraft. Manchmal war ich nicht einmal für meine eigenen Follower*innen sichtbar.
Was wünschst du dir stattdessen? Ich glaube nicht, dass es nachhaltig für Menschen ist, Kunst in dieser Geschwindigkeit zu produzieren. Allerdings funktioniert unsere Gesellschaft genauso: Alles soll schnell verfügbar sein, wie Fast Food und Fast Fashion. Wir wollen alles und das sofort. Aber ich glaube nicht, dass das eine gesunde Art zu leben ist. Dasselbe gilt für Substack: Autor*innen sollten sich nicht zwingen, jeden Tag Beiträge zu schreiben, nur um den Algorithmus zu befrieden. Andernfalls arbeitet man nicht zu seinen eigenen Bedingungen. Man kann als Autor*in nicht authentisch sein, wenn man seine Arbeitsweise ändert, um einer Plattform zu gefallen.
Wie können wir mit der Geschwindigkeit unserer Gesellschaft und dem Druck, zu konsumieren und zu leisten, umgehen? Ich war für sechs Tage auf einem Meditations-Retreat. Mein Telefon war ausgeschaltet. Ich hatte nichts zu tun. Ich saß nur da und beobachtete. Der Anfang war wirklich schwierig für mich, obwohl es nicht mein erstes Retreat war. Ich bemerkte, wie überreizt ich in den letzten Monaten gewesen war. Als ich alles stoppte, war mir so langweilig. Es fühlte sich wie ein Entzug an. Aber nach ein paar Tagen fühlte ich mich entspannter und wohler. Ich begann, so viele Ideen zu entwickeln. Ich schrieb seitenweise über Keramikkunst, die ich machen, und Beiträge, die ich auf Substack schreiben könnte.
Die schönen Dinge siehst du nur, wenn du langsam gehst. – Haemin Sunim
Wir leben in einer Welt, in der wir viel zu viel konsumieren. Wenn es eine Zeit am Tag gibt, in der wir nichts zu tun haben, verspüren wir das Verlangen, das Telefon in die Hand zu nehmen oder etwas anderes zu tun. Wir können nicht mehr still sitzen, weil wir uns daran gewöhnt haben, immer beschäftigt zu sein. Unsere Aufgabe besteht nun darin, all diese Ablenkungen zu minimieren, zum Beispiel durch das Löschen von Apps oder indem wie den Zeitraum begrenzen, in dem wir unser Telefon nutzen.
Neben deiner Arbeit bei Salesforce bist du in vielen anderen Bereichen aktiv. Was genau machst du dort? In unserem Unternehmen gibt es verschiedene Equality Groups, in denen wir uns ehrenamtlich einbringen können. Ich bin Teil des Women's Network. Wir organisieren Veranstaltungen, planen Aktionen zum Frauentag und arbeiten mit anderen Unternehmen zusammen. Im Allgemeinen sind wir da, um Frauen zu unterstützen und sie sichtbarer zu machen.
Darüber hinaus bin ich auch Intersectionality Officer. Wir können Dinge nicht isoliert betrachten. Du kannst eine Frau wie ich sein, du kannst eine muslimische Frau wie ich sein, du kannst aber auch gleichzeitig eine bisexuelle Frau wie ich sein. Aufgrund verschiedener Aspekte unserer Identität können wir Diskriminierung erfahren. Intersektionalität beschreibt genau das. Menschen sind komplex. Man kann sie nicht in eine Kategorie einordnen. Als Intersectionality Officer stelle ich sicher, dass das Women's Network mit anderen Equality Groups im Unternehmen in Verbindung steht.
Kürzlich bin ich auch dem Betriebsrat in Berlin beigetreten. Ich habe erkannt, dass ich durch die Equality Groups allein nicht viel verändern kann. Durch meine Arbeit im Betriebsrat kann ich das Unternehmen wirklich zu bedeutenden Veränderungen drängen.
Warum setzt du dich für Gleichstellung ein? Weil ich selbst betroffen bin. Immer wenn wir im Women's Network zusammen saßen, war ich die einzige Woman of Color. Die Erfahrungen der Mitglieder unterscheiden sich von meinen.
Wie kann unsere Gesellschaft gerechter werden? Wenn jeder Mensch auf dieser Welt etwas mehr Empathie für Menschen hätte, die anders sind als sie selbst, würden wir bereits in einer viel friedlicheren Welt leben. Einfach indem man zuhört und nicht defensiv auf die Erfahrungen anderer reagiert.
Einmal habe ich einen Workshop zu Mikro-Aggressionen geleitet. In dem Kurs habe ich meine Erfahrung geteilt, wie es sich für mich anfühlt, wenn mich jemand fragt, woher ich komme. Einige deutsche Kolleg*innen verstanden nicht, warum mich diese Frage verletzt. Sie meinten, sie seien nur neugierig. Wenn man ständig nach seiner Herkunft gefragt wird und sich immer wieder erklären muss, obwohl man genauso gut Deutsch spricht wie die anderen, ist das ermüdend und verletzend. Eine Freundin gab mir den Rat, dass man sich, bevor man jemanden nach seiner Herkunft fragt, überlegen sollte, warum man diese Information wissen möchte. Wahrscheinlich steckt man die Person anschließend in eine Schublade und schreibt ihr positive oder negative Eigenschaften aufgrund ihrer Herkunft zu.
Danke Tuğba, dass du dir die Zeit genommen hast!
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