Wer spricht und wer bleibt unsichtbar?
Wenn Gerechtigkeit nicht allen zusteht: Naz Al-Windi über Macht, Ausschluss und politischen Widerstand
Naz Al-Windi arbeitet seit vielen Jahren als politische Bildnerin. Ihr Ziel: Menschen für gesellschaftliche Diskussionen zu sensibilisieren und sie zu befähigen, gesellschaftliche und politische Themen machtkritisch einzuordnen.
Warum werden bestimmte Inhalte platziert und andere ausgelassen?
Wer darf sprechen?
Wessen Perspektiven werden gehört und anerkannt?
Wessen Perspektive wird ausgelassen? Wessen negiert?
Zudem ist Naz Aktivistin. Dabei transformiert sie Wissen aus der politischen Bildung in praktisches Handeln. Gemeinsam mit vielen anderen inspirierenden und wütenden Menschen organisiert sie Demonstrationen, Gespräche und Community-Gatherings als Protest gegen die gesellschaftlichen Zustände.
Was macht dich besonders wütend, wenn du an die Politik in Deutschland denkst? Um meine Wut, meine Trauer und meine Enttäuschung zu kommunizieren, bräuchte ich viel mehr Worte.
Aber wenn ich zusammenfassen müsste, wäre es die moralische Trägheit. Diese Formulierung beschreibt für mich viele gleichzeitige Zustände: die Passivität, das Hinnehmen, die Verantwortungslosigkeit.
Uns aktiviert nicht das Abschiebeticket im Briefkasten der Nachbarin,
uns aktiviert nicht die Ermordung eines Schwarzen Jugendlichen in unserer Stadt,
uns aktivieren nicht die wiederkehrenden rassistischen Grenzüberschreitungen von Minister*innen,
uns aktivieren nicht Tausende Leichen im Mittelmeer,
uns aktiviert der Genozid in Gaza nicht.
Das macht mich wütend und ich habe Angst, Teil einer solchen Gesellschaft zu sein, die Gewalt nicht sehen, nicht benennen und nicht bekämpfen kann.
Wie nimmst du die Reaktionen auf die Proteste für ein freies Palästina in Deutschland wahr? Sehr schräg.
Der Genozid in Gaza hat eine globale Solidaritätsbewegung ausgelöst. Diese Bewegung ist unglaublich divers. Sie knüpft an bestehende Widerstandsstrukturen an und hat neue Allianzen gefunden:
Global demonstrieren Klimaaktivist*innen mit Wassermelonen,
in Los Angeles tragen die Anti-ICE Demonstrierenden Kufiyyas,
Communities der Maori integrieren die Fahne Palästinas in ihren Haka.
All diese Momente sind die Weiterführung einer langen Tradition der Solidarität mit Palästina. Die Verdammten dieser Erde wissen, an wessen Seite sie stehen.
In Deutschland hingegen wird die Palästina-Solidaritätsbewegung systematisch aus „progressiven“ Räumen isoliert. Aus meiner Erfahrung in Hamburg konnte ich beobachten, wie Gruppen, die antirassistische oder Geflüchtetenarbeit machen, die Zusammenarbeit mit palästina-solidarischen Gruppen ablehnen.
Häufig ist diese Ablehnung eine Form des vorauseilenden Gehorsams, denn man möchte nicht die hart erkämpften Fördergelder aufs Spiel setzen. Dazu zählt auch der Ausschluss „unliebsamer“ Stimmen, die die vermeintliche Anschlussfähigkeit an die bürgerliche Mitte gefährden könnten. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Elisa Baş bei Fridays for Future Deutschland.
In anderen Fällen sind es Personen, die aus ideologischen Gründen die Zusammenarbeit behindern und versuchen, Gruppen als autoritär oder antisemitisch zu diffamieren.
Dass sich diese Personen beispielsweise in der Geflüchtetenarbeit wohlfühlen, ist kein Widerspruch. Denn dort begegnen sie migrantischen Menschen in einem klaren Machtverhältnis. Problematisch wird es für sie, wenn die Begegnung auf Augenhöhe stattfindet. Dann ist plötzlich keine Partizipation mehr erwünscht.
Was hat das mit (Post-)Kolonialismus zu tun? Die Palästina-Solidaritätsbewegung ist migrantisch geprägt. Es sind mehrheitlich Schwarze und nicht-weiße Menschen, die den Widerstand gegen den Genozid in Gaza organisieren.
Migrantischer Protest irritiert das weiße Publikum. Er hält sich nicht an die Sprache, die Regeln und die Systematik, auf die sich weißer Aktivismus geeinigt hat. Der Protest ist laut, emotional und persönlich. All diese Begriffe sind kolonial-kontaminiert. Den Protestierenden wird konsequent eine legitime Agenda, Rationalität und Vernunft abgesprochen. Sie werden stattdessen als aggressive und unkontrollierbare Masse porträtiert.
Diese Bilder entspringen kolonialer Logiken, die „die Anderen“ und ihr Anliegen schon aufgrund der Ausdrucksweise und Ästhetik ablehnen. Es wird jede Bewegung, jedes Sprechen und jedes Denken verunmöglicht oder kriminalisiert, da sie eine Irritation oder Infragestellung des vorherrschenden weißen Status quo darstellen.
Was sind deine Vorbilder, wenn es um politische Kämpfe geht? Ein intellektuelles Vorbild ist Frantz Fanon. Er hat mich in die Sprache der Dekolonialität eingeführt, die mir hilft, mich durch die Welt zu navigieren.
Ein politisches Vorbild ist Hussein Ibn Ali. Er hat mir demonstriert, dass der Kampf für das gerechte Leben nicht auf Mehrheiten wartet und jede Rebellion erfolgreich ist.
Wie können wir uns für eine gerechte inklusive Gesellschaft einsetzen? Positioniert euch! Radikalisiert euch! Lasst euch aktivieren von all der Verletzung, derer wir Zeug*innen sind. Und stellt diese Aktivität in den Dienst der Community, nicht des Kommerzes. Wir brauchen nicht weitere rassismuskritische Autor*innen, sondern mehr Menschen, die sich umeinander kümmern, ohne persönlichen Nutzen daraus zu schlagen und ohne etwas im Gegenzug zu verlangen.
Vielen Dank Naz, dass du dir die Zeit genommen hast, dein Wissen mit uns zu teilen!
Möchtest du mehr von Naz und ihrer Arbeit erfahren? Dann folge ihr auf Instagram oder LinkedIn. Bei Poco.lit. hat sie ein Essay über die Praxis der Dekolonialität geschrieben und zeigt dabei, wie koloniale Strukturen bis heute fortwirken.
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